FÜNFUNDVIERZIG
O mein Gott. Also, ich hab echt total versagt«, stöhnt Rachel, während sie sich das wellige braune Haar über die Schulter wirft und die Augen verdreht. »Ich meine, ich hab gestern Abend kaum mehr was gelernt. Ehrlich. Und dann hab ich ganz spät noch gesimst.« Sie blickt mich aus großen Augen an und schüttelt den Kopf. »Na, egal. Nur damit du weißt, dass mein Leben, so wie es bisher war, vorbei ist. Also schau mich noch einmal gut an, denn sobald die Noten raus sind und meine Eltern Bescheid wissen, krieg ich lebenslänglich Hausarrest.«
»Bitte.« Ich rolle mit den Augen. »Wenn irgendjemand versagt hat, dann ja wohl ich. Ich habe in dem Kurs das ganze Jahr nur Bahnhof verstanden! Außerdem will ich ja keine Naturwissenschaftlerin werden oder so. Ich brauch den Stoff doch nie im Leben.« Ich bleibe kurz vor ihrem Spind stehen und sehe ihr zu, wie sie ihn aufschließt und einen Stapel Bücher hineinwirft.
»Ich bin bloß froh, dass es vorbei ist und die Noten erst nächste Woche rauskommen. Das heißt, ich muss unbedingt Party machen, solange ich noch kann. Apropos - um wie viel Uhr soll ich eigentlich heute Abend vorbeikommen?«, fragt sie mit so weit hochgezogenen Brauen, dass sie unter ihrem Pony verschwinden.
Ich schüttele den Kopf und seufze, als mir klar wird, dass ich es ihr noch nicht gesagt habe und sie jetzt garantiert sauer reagieren wird. »Also, wegen heute Abend ...« Ich gehe neben ihr her in Richtung Parkplatz und stecke mir die langen blonden Haare hinter die Ohren. »Da gibt es eine kleine Änderung. Meine Eltern gehen aus, und ich muss auf Riley aufpassen.«
»Und das nennst du eine kleine Änderung?« Rachel bleibt abrupt vor dem Parkplatz stehen und mustert die Autoreihen, weil sie unbedingt mitbekommen will, wer mit wem fährt.
»Na ja, ich dachte, dass du vielleicht vorbeikommen könntest, wenn sie ins Bett gegangen ist, und ...« Doch ich mache mir gar nicht die Mühe, den Satz zu Ende zu sprechen, da sie mir längst nicht mehr zuhört. Sowie ich meine kleine Schwester erwähnt habe, hat sie sich ausgeklinkt. Rachel ist eines dieser seltenen Einzelkinder, die sich noch nie vorgestellt haben, wie es wohl ist, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Das Rampenlicht zu teilen ist einfach nicht ihr Ding.
»Vergiss es«, sagt sie. »Kleine Leute haben klebrige Finger und große Ohren, man kann ihnen nicht trauen. Wie wär's mit morgen?«
»Geht nicht. Familientag. Wir fahren alle zusammen an den See.«
»Aha.« Rachel nickt. »Wenigstens mit so was musst du dich nicht rumschlagen, wenn deine Eltern getrennt sind. Bei uns ist Familientag, wenn wir uns alle vor Gericht treffen und über die Höhe der Unterhaltszahlungen streiten.«
»Du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du hast«, sage ich und bereue meinen Scherz, sobald ich ihn ausgesprochen habe. Denn es ist nicht nur eine totale Lüge, sondern irgendetwas daran macht mich dermaßen traurig und schuldbewusst, dass ich wünschte, ich könnte es zurücknehmen.
Aber Rachel hat sowieso nicht zugehört. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit der sagenhaften Shayla Sparks zu erregen, die so ziemlich die coolste Oberstufenschülerin ist, die je durch die Gänge dieser Schule geschritten ist. Sie winkt hektisch und kann sich gerade noch davor zurückhalten, auf und ab zu hüpfen und zu kreischen wie ein Groupie, weil sie sich unbedingt bei Sheila bemerkbar machen will, die gerade all ihre coolen Freundinnen in ihren himmelblauen VW-Käfer packt. Schließlich lässt sie den Arm sinken und tut so, als müsste sie sich am Ohr kratzen und als wäre es ihr überhaupt nicht peinlich, dass Shayla sie komplett ignoriert.
»Glaub mir, der Wagen ist gar nicht so toll«, sage ich, ehe ich einen Blick auf die Uhr werfe, mich umsehe und mich frage, wo zum Henker Brandon bleibt, der mittlerweile längst da sein müsste. »Der Miata ist besser.«
»Wie bitte?« Rachel mustert mich mit ungläubig zusammengekniffenen Brauen. »Seit wann hast du auch nur einen davon gefahren?«
Ich höre meine Worte noch einmal in meinem Kopf und habe keine Ahnung, warum ich sie gesagt habe. »Ähm, hab ich auch nicht.« Ich zucke die Achseln. »Das ... Das muss ich irgendwo gelesen haben.«
Sie sieht mich mit schmalen Augen an und lässt den Blick an meiner Kleidung endangwandern, von meinem schwarzen V-Pulli bis hinunter zu meiner Jeans, die am Boden schleift. »Und wo hast du das her?« Sie greift nach meinem Handgelenk.
»Bitte. Die hast du doch schon hunderttausendmal gesehen. Die hab ich letztes Jahr zu Weihnachten gekriegt«, sage ich und winde mich aus ihrem Griff. Als Brandon auf mich zukommt, denke ich unwillkürlich, wie süß er doch aussieht, wenn ihm das Haar in die Augen fällt.
»Doch nicht die Uhr, Dussel, das da!« Sie tippt auf das Armband neben meiner Uhr, das mit den kristallbesetzten Reitermotiven, das mir ganz und gar nicht vertraut ist, mir jedoch irgendwie ein flaues Gefühl im Magen verschafft, wenn ich es ansehe.
»Ich ... Ich weiß nicht«, murmele ich und zucke innerlich zusammen, als sie mich ansieht, als hätte ich sie nicht mehr alle. »Ich meine, ich glaub, das hat mir meine Tante geschickt, du weißt schon, die, von der ich dir erzählt habe, die, die in Laguna Beach wohnt.«
»Wer wohnt in Laguna Beach?«, will Brandon wissen, während er einen Arm um mich legt. Rachel schaut zwischen uns hin und her und verdreht die Augen, als er sich vorbeugt, um mich zu küssen. Aber irgendetwas an seinen Lippen fühlt sich so sonderbar und beunruhigend an, dass ich mich hastig abwende.
»Mein Fahrdienst ist da«, sagt Rachel und läuft auf den Geländewagen ihrer Mutter zu. »Sag mir Bescheid, wenn sich irgendwas ändert«, ruft sie noch über ihre Schulter, »du weißt schon, wegen heute Abend!«
Brandon sieht mich an und zieht mich fester an sich, bis ich praktisch an seinem Brustkorb klebe, woraufhin mir erst recht flau im Magen wird.
»Wenn sich was ändert?«, fragt er, ohne zu beachten, wie ich mich aus seiner Umarmung winde, ohne mein schlagartig geschwundenes Interesse zu bemerken, was mich enorm erleichtert, da ich keine Ahnung habe, wie ich es erklären soll.
»Ach, sie will mich auf Jadens Party schleppen, aber ich muss babysitten«, erkläre ich, während ich auf seinen Jeep zugehe und meine Tasche in den Fußraum werfe.
»Soll ich vorbeikommen?«, fragt er lächelnd. »Du weißt schon, falls du Unterstützung brauchst?«
»Nein!«, sage ich, zu heftig und zu schnell. Als ich sein Gesicht sehe, wird mir klar, dass ich einen Rückzieher machen muss. »Ich meine, Riley bleibt immer ewig auf, da ist es wahrscheinlich nicht so günstig.«
Er sieht mich prüfend an, als spürte er es auch, das ungreifbare große falsche Ding, das zwischen uns schwebt und alles so verflixt merkwürdig wirken lässt. Achselzuckend wendet er sich zur Straße um und bestreitet den Rest der Fahrt in absolutem Schweigen. Oder zumindest er und ich schweigen. Seine Stereoanlage dröhnt in voller Lautstärke. Und obwohl mir das meistens auf die Nerven geht, bin ich heute froh darüber. Lieber konzentriere ich mich auf die bescheuerte Musik, die ich nicht ausstehen kann, als darauf, dass ich ihn nicht küssen will.
Ich sehe ihn an, sehe ihn richtig an, so wie ich ihn nicht mehr angesehen habe, seit ich mich daran gewöhnt habe, dass wir ein Paar sind. Ich betrachte die geschwungenen Ponyfransen über seinen großen, leicht schräg stehenden grünen Augen, die ihn so unwiderstehlich machen - außer heute. Heute kann ich ihm leicht widerstehen. Wenn ich daran denke, wie ich gestern noch mein Notizbuch mit seinem Namen vollgekritzelt habe, kommt mir das völlig unbegreiflich vor.
Er dreht sich zur Seite, bemerkt, wie ich ihn mustere, und nimmt lächelnd meine Hand. Dann flicht er seine Finger durch meine und drückt sie so, dass mir ganz mulmig wird. Aber ich zwinge mich selbst, beides zu erwidern, das Lächeln und den Druck, da ich weiß, es wird erwartet, es ist das, was eine brave Freundin tut. Dann sehe ich aus dem Fenster und unterdrücke die Übelkeit, während ich auf die vorbeiziehende Landschaft blicke, die regennassen Straßen, die Holzhäuser und die Kiefern, und mich freue, dass ich bald zu Hause bin.
»Und, was ist mit heute Abend?« Er biegt in meine Einfahrt ein und dreht die Musik leiser, ehe er sich zu mir herüberlehnt und mich auf seine ganz spezielle Weise ansieht.
Doch ich presse bloß die Lippen zusammen, greife nach meiner Tasche und halte sie mir vor die Brust wie einen Schild, einen massiven Schutzwall, der ihn fernhalten soll. »Ich schreib dir eine SMS«, murmele ich und weiche seinem Blick aus, indem ich aus dem Fenster sehe und meiner Nachbarin und ihrer Tochter beim Fangenspielen auf dem Rasen zuschaue. Dabei fasse ich zugleich nach dem Türknauf, um so schnell wie möglich weg von ihm und in mein Zimmer zu kommen.
Gerade als ich die Tür aufgemacht und ein Bein hinausgestellt habe, sagt er: »Hast du nicht was vergessen?«
Ich schaue auf meinen Rucksack hinunter, da ich weiß, dass ich nichts weiter dabeihatte, doch als ich ihn ansehe, begreife ich, dass er das nicht gemeint hat. Da es nur einen Weg gibt, um die Sache zu beenden, ohne weiteren Argwohn zu schüren, lehne ich mich zu ihm hinüber und schließe die Augen, während ich meine Lippen auf seine presse. Sein Mund erscheint mir objektiv samtig und weich, aber im Grunde neutral, ohne das altbekannte Prickeln.
»Dann ... ähm, dann bis später«, murmele ich, springe aus dem Jeep und wische mir den Mund am Ärmel ab, noch ehe ich an der Haustür angekommen bin. Eilig gehe ich hinein und marschiere schnurstracks in Richtung Fernsehzimmer, wo ich allerdings durch ein Plastikschlagzeug, eine Gitarre ohne Saiten und ein kleines schwarzes Mikrofon, das zu zerbrechen droht, wenn Riley und ihre Freundin nicht aufhören, sich darum zu streiten, am Eintreten gehindert werde.
»Wir haben uns schon geeinigt«, erklärt Riley und reißt das Mikrofon an sich. »Ich singe alle Jungssongs, und du singst alle Mädchensongs. Wo ist das Problem?«
»Das Problem«, jammert ihre Freundin und zieht noch fester, »ist, dass es so gut wie keine Mädchensongs gibt, das weißt du ganz genau.«
Doch Riley zuckt bloß mit den Schultern. »Das ist nicht meine Schuld. Beschwer dich bei Rock Band, nicht bei mir.«
»Ehrlich, du bist so ...« Ihre Freundin hält inne, als sie mich kopfschüttelnd in der Tür stehen sieht.
»Ihr müsst euch abwechseln«, sage ich und sehe Riley mahnend an. Ich bin froh, dass ich mit einem Problem konfrontiert werde, das ich lösen kann, obwohl man mich gar nicht darum gebeten hat. »Emily, du kriegst den nächsten Song, Riley, du den danach und so weiter. Glaubt ihr, ihr schafft das?«
Riley verdreht die Augen, als ihr Emily das Mikrofon aus der Hand reißt.
»Ist Mom da?«, frage ich, während ich Rileys finstere Miene ignoriere, die ich mittlerweile mehr oder weniger gewöhnt bin.
»Sie ist in ihrem Zimmer und macht sich fertig«, sagt sie und sieht mir nach, während sie ihrer Freundin zuflüstert: »Okay. Ich singe dann Dead on Arrival, und du kannst Creep singen.«
Ich schlendere an meinem Zimmer vorüber, lasse meine Tasche zu Boden fallen und gehe weiter zum Zimmer meiner Mutter, wo ich mich gegen den Durchgang lehne, der das Schlafzimmer vom Badezimmer trennt, und ihr zusehe, wie sie sich schminkt. Ich muss daran denken, wie gern ich das immer getan habe, als ich noch klein war und meine Mom für die glamouröseste Frau der Welt gehalten habe. Wenn ich sie jetzt betrachte, ich meine, objektiv betrachte, wird mir klar, dass sie tatsächlich irgendwie glamourös ist, zumindest für eine ganz normale Mittelschichtsmutter.
»Wie war's in der Schule?«, fragt sie, während sie den Kopf nach allen Seiten dreht, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Make-up gleichmäßig und ohne Ränder aufgetragen hat.
»Ganz okay«, antworte ich achselzuckend. »Wir haben einen Test in Naturwissenschaften geschrieben, bei dem ich ziemlich sicher durchgefallen bin«, sage ich, obwohl ich eigentlich gar nicht glaube, dass es ganz so schlecht gelaufen ist. Aber ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll, was ich eigentlich sagen will - dass sich alles merkwürdig anfühlt und ungewiss, als wäre es aus dem Gleichgewicht geraten, aus dem Tritt -, und hoffe auf irgendeine Reaktion von ihr.
Doch sie seufzt nur und macht mit ihren Augen weiter, indem sie sich mit einem kleinen Bürstchen über Lider und Lidfalten streicht. »Du bist bestimmt nicht durchgefallen«, sagt sie und sieht mich im Spiegel an. »Bestimmt hast du ganz gut abgeschnitten.«
Ich fahre mit dem Finger einen Fleck an der Wand nach und denke, dass ich mich verziehen, eine Weile auf mein Zimmer gehen und mich entspannen sollte, ein bisschen Musik hören, ein gutes Buch lesen, irgendetwas, um mich von mir selbst abzulenken.
»Tut mir leid, dass es so kurzfristig war«, sagt sie und schiebt das Bürstchen ihrer Wimperntusche mehrmals in den Behälter und wieder heraus. »Du hattest bestimmt schon etwas anderes vor.«
Schulterzuckend drehe ich das Handgelenk hin und her, beobachte, wie die Kristalle auf meinem Armband aufblinken und im Neonlicht glitzern, und versuche, mich daran zu erinnern, woher ich es habe. »Schon in Ordnung«, sage ich. »Es kommen noch massenhaft andere Freitagabende.«
Meine Mutter zwinkert mir zu, die Wimperntusche in der Hand, und hält beim Schminken inne. »Ever?«, sagt sie. »Bist das du?« Sie lacht. »Ist irgendetwas los, das ich wissen müsste? Das klingt nämlich ganz und gar nicht nach meiner Tochter.«
Ich hole tief Luft, während ich mir wünsche, ich könnte ihr sagen, dass ganz eindeutig etwas los ist, etwas, das ich nicht richtig benennen kann, etwas, wodurch ich mich so gar nicht wie ich fühle.
Doch ich tue es nicht. Ich meine, ich kann es mir selbst kaum erklären, geschweige denn ihr. Ich weiß nur, dass ich mich gestern noch gut gefühlt habe - und heute eher das Gegenteil von gut. Irgendwie fremdartig - als passte ich nicht mehr dazu, als wäre ich ein rundes Mädchen in einer eckigen Welt.
»Du weißt, dass ich damit einverstanden bin, wenn du dir ein paar Freunde einlädst«, sagt sie und macht mit ihren Lippen weiter, indem sie eine Schicht Lippenstift aufträgt und die Farbe durch einen Tupfer Lipgloss verstärkt. »Solange es nicht mehr als drei sind und du deine Schwester nicht ignorierst.«
»Danke«, sage ich nickend und ringe mir ein Lächeln ab, damit sie glaubt, mit mir sei alles in Ordnung. »Aber irgendwie freue ich mich auf einen Abend ohne all das.«
Ich gehe in mein Zimmer und lasse mich aufs Bett fallen, zufrieden damit, einfach nur an die Decke zu starren, bis ich begreife, wie erbärmlich das ist, und so greife ich stattdessen nach dem Buch auf meinem Nachttisch. Bald bin ich ganz vertieft in die Geschichte eines Jungen und eines Mädchens, die so eng miteinander verbunden sind und so perfekt zusammenpassen, dass ihre Liebe die Grenzen der Zeit überschreitet. Ich wünschte, ich könnte in das Buch steigen und für immer dort bleiben, da mir ihre Geschichte besser gefällt als meine eigene.
»Hey, Ev.« Mein Dad steckt den Kopf zur Tür herein. »Ich wollte hallo und tschüss zugleich sagen. Wir sind spät dran und müssen gleich los.«
Ich werfe mein Buch beiseite, stürme auf ihn zu und umarme ihn so fest, dass er lacht und den Kopf schüttelt.
»Schön, dass du noch nicht zu erwachsen dafür bist, deinen alten Herrn zu umarmen«, sagt er lächelnd, während ich mich von ihm löse und entsetzt feststelle, dass ich echte Tränen in den Augen habe. Schnell mache ich mich an ein paar Büchern im Regal zu schaffen, bis ich sicher bin, dass die Gefahr gebannt ist. »Sorg dafür, dass du und deine Schwester gepackt habt und reisefertig seid. Ich will morgen früh zeitig aufbrechen.«
Ich nicke und wundere mich über das seltsam hohle Gefühl in der Magengrube, das ich bekomme, als ich ihn gehen sehe. Nicht zum ersten Mal heute frage ich mich, was eigentlich mit mir los ist.